Svenja

Autorin: Anonym

Ich bin Martin. Ich und Svenja, wir teilten uns vor langer Zeit vieles, vielleicht alles. Wir haben uns weit voneinander entfernt, bis wir wieder zueinander kamen und ich meine Bestimmung fand. Wir teilten uns den Vater, die Mutter, später den kleinen Bruder, wir wuchsen zusammen auf, in unserer kleinen Welt. Wer heute in diese kleine Stadt kommt, erkennt in ihr kaum noch das Provinznest, in dem wir aufwuchsen. Heute ist Füssen ein weltoffenes, fast schon mondänes Ferienparadies. In der Fußgängerzone hört man die Stimmen der Welt. Italiener, Chinesen, Franzosen, Briten, Amerikaner, Koreaner, Menschen aus aller Herren Länder schlendern die Reichenstraße hoch und essen am Stadtbrunnen ein Eis, trinken einen Aperol oder Hugo. Schwule und Lesben verbringen gern ein paar Tage in dieser toleranten, auch etwas gleichgültigen, auf das Geld bedachten Kleinstadt.

Vor 30, 40 Jahren war Füssen ein Dorf in Randlage, direkt an der österreichischen Grenze. Ein Kaff, dem man knapp 700 Jahre zuvor das Stadtrecht verliehen hatte, warum auch immer. Die Japaner und auch andere Touristen waren damals schon da. Aber das ging eher spurlos an der Mentalität der Bewohner vorbei. So wurden Svenja und ich auf dem Dorf groß. Da wo Mann noch Mann war und Emotionen was für Weiber. Ich lernte das früh. Ich war kein so richtiger Kerl, ich war immer etwas kränklich, weich, schwach. Die anderen Kinder spürten das und ließen es mich spüren. Ich war ein Außenseiter, auch wenn ich immer ein paar gute Freunde hatte. Es war nicht leicht, meinen Platz im Leben zu finden.

Svenja war gar nicht so viel anders, als ich. Sie war genauso fragil. Aber sie war ein Mädchen, wurde in Schutz genommen, gehegt und gepflegt. Sie hörte natürlich nie Sätze wie „ein Junge weint nicht“ oder „sei nicht so wehleidig“. Svenja stand mir sehr nahe und war doch so weit von mir entfernt, ich unter den Jungs, sie in dieser seltsam verzauberten Mädchenwelt voll Feen und Zauber. Manchmal beneidete ich sie. Aber wir kamen gut miteinander klar, auch wenn unsere Leben zunehmend auseinander liefen. Wir gingen auf die selbe Grundschule, auf das selbe Gymnasium, unsere Freundeskreise überschnitten sich. Und doch blieb sie für mich lange etwas schwer greifbares, auch fremdes, undurchschaubares.

Wir hatten eine behütete Kindheit, eine liebende und warme Familie, Großeltern, die nahe waren. Die harte Realität trat in unser Leben, als zuerst mein Onkel bei einem Arbeitsunfall starb und wenige Jahre später seine Frau, meine Tante, bei einem Autounfall. Da waren zwei Söhne, der eine 6 wie unser Bruder, der andere 8. Svenja und ich waren fast volljährig. Meine Eltern entschieden, die beiden Kinder in die Familie zu nehmen. Die Jungs waren in Ordnung, aber es war schwierig. Man kann die Eltern nur schwer ersetzen.

Wir begannen uns nach einem schweren, drastischen Schicksalsschlag zu entfernen, der in unser Leben eindrang, ohne uns zu fragen. Unser Vater starb an einem Wintertag in den frühen 90ern. Er kam nicht nach Hause. Wir suchten ihn. Mein Opa fand ihn. Als der Anruf kam, sprang ich ins Auto; ich hatte gerade den Führerschein. Ich raste die 2 Km zu meinem Opa. Vor dem Haus standen Polizisten und Sanitäter und schauten mich mit leeren, irgendwie verlegenen Augen an, Kippen im Mundwinkel. Ich stürmte die Treppe hoch und da lag mein Vater. Er hatte den Strick, von dem ihn mein Opa geschnitten hatte noch um den Hals. Seine Augen waren tot, er war tot. Er trug eine selbstgebastelte Perücke aus Hanf und schäbige Frauenkleider. Mir wurde anders.

Svenja sah mich nur mit ihren ausdruckslosen, verheulten Augen an. Sie war noch hilfloser, fühlte sich noch deplatzierter als ich. Wir dachten lange, unser Vater hätte sich umgebracht. Erst von der Lebensversicherung erfuhren wir, dass es ein autoerotischer Unfall war. Svenja konnte mit der Situation noch weniger umgehen, als ich, war noch überforderter. Wir machten unser Abitur fertig und sie ging hinaus in die große, weite Welt. Sie war lesbisch, dass war mir klar und für sie war das Füssen der 90er sowieso kein Ort zum glücklich werden. Ich wollte eigentlich für 2 Jahre zur Marine gehen, aber ich entschied mich, erst einmal zu Hause zu bleiben und Zivildienst zu leisten. Da war meine Mutter, schwer getroffen und depressiv, drei kleine Jungs zwischen 7 und 9. Ich konnte nicht gehen, ich konnte nicht einfach alles zurücklassen, wie Svenja es konnte und musste. Und so versuchte ich, selbst kaum erwachsen, meiner Mutter eine Stütze zu sein, und den 3 Kleinen ein Vatersurrogat.

Das gelang mir sogar irgendwie, mehr schlecht, als recht, und ich genoss die mit der Verantwortung verbundene Anerkennung. Leider endete damit meine Kindheit und auch die Mutter-Sohn Beziehung zu meiner Mutter ein Stück weit, viel zu früh. Es dauerte Lange, bis sie etwas heilte. Als sich die Lage etwas stabilisiert hatte, ging ich ins 100 Km entfernte Augsburg zum studieren. Ich wusste nicht recht was, aber irgendwie landete ich bei Jura. Es gefiel mir wohl intuitiv und unbewusst, mich durch das Wissen und den Status eines Juristen etwas weniger angreifbar zu machen. Bereits Jahre zuvor, hatte ich angefangen, intensiv Sport zu treiben, einerseits, weil ich dadurch in eine andere Sphäre kam, fern von allem, andererseits auch, um einen wehrhaften Körper zu bekommen.

Svenja kam während des Studiums zu mir nach Augsburg. Sie schlich sich in mein Leben, und es schien, als könnten wir wieder eins werden, so wie wir es früher waren. Aber letztlich passte sie nicht in mein Leben und ich schob sie beiseite. Wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich mich ihr damals wirklich geöffnet hätte?

Svenja war danach nie ganz da, aber auch nie ganz weg. Sie verschwand etwas aus meinem Blickfeld. Ich zog das Studium ohne großen, aber mit dem nötigen Elan durch, anschließend das Referendariat und landete bei einer größeren mittelständischen Augsburger Kanzlei. Ich lernte meine Frau kennen und lieben. Auch wenn es ein harter und steiniger Weg war: Irgendwann stellte sich Nachwuchs ein, und meine Tochter kam zur Welt, das größte Geschenk meines Lebens. Ich liebte sie mit der ersten Berührung und weiß, dass sich das niemals ändern wird. Leider kam meine Tochter nicht ohne Preis auf die Welt. Letztlich kostete es meine Frau und mich unser zuvor schönes Sexualleben. Und mit dem Sexualleben starben zeitlich versetzt unsere Liebe und unsere Ehe.

Als ich allein war und der Trennungsstress mit Umzug erledigt, als ich auf mich selbst zurückgeworfen war, wurde ich unruhig, irgendwann krank. Irgendetwas wollte ans Licht. Svenja kam verstärkt zurück zu mir. Sie spürte, dass da etwas war. Sie konfrontierte mich und weigerte sich zu gehen. Bis ich hinsah und sie sah, sie zum ersten Mal wirklich sah. Ich sah sie im Spiegel. Sie war ich. Oder war ich sie? Jedenfalls wusste ich, dass ich gehen musste, damit sie leben konnte. Da war keine große Entscheidung. Einfach nur die Einsicht, dass ich nicht real war, sondern eine Idee, eine Krücke um zu überleben.

Aber war ich wirklich nie real? Gab es mich?

Ja. Es gab mich. Ich war über einige Jahrzehnte das Einzige, was der Großteil der Welt sah. Ich war die vermeintliche Realität und Svenja war nicht viel mehr als eine Ahnung und vielleicht beste Freundin meiner besten Freundin. Sie war immer da, sie schlummerte immer in mir und erwachte manchmal zum Leben. Und ich war immer da, als die Idee, die es zu sein galt. Ich habe Spuren hinterlassen, eine gemeinsame Geschichte mit meinen Liebsten, eine Tochter. Ich werde immer da sein. Ich werde immer real sein, so real, wie ich jemals war. Ich lebe weiter, in den Erinnerungen von Svenja und den Menschen, die mich kannten. Auch wenn ich immer nur eine Windhauch war, eine Sternschnuppe. Was ist schon Realität?