Ich bin nicht kaputt!

Autorin: Anonym

Ich kann gar nicht so genau sagen, wo mein Weg in die Regenbogenfamilie so richtig anfing. In der Schule vielleicht, Mittelstufe, wir waren alle so um die 14, 15 oder 16 Jahre alt, Sex und Liebe waren in jedem, wirklich jedem, Gespräch zu finden. Ich gehörte wohl zu denen, die damit nicht so recht etwas anfangen konnten. Ich lachte, wie alle anderen, über schmutzige Witze, obwohl ich sie oft nicht verstand, beobachtete knutschende Mitschüler und tuschelte über sie, weil es alle taten, obwohl es mich eigentlich nicht interessierte. Meine Mutter nannte mich hinter vorgehaltener Hand einen Spätzünder. Und plötzlich war ich eine der ersten in meinem Jahrgang, die einen festen Freund und auch das erste Mal hatten. Ich hatte damals einen jungen Mann kennengelernt, der sich in mich verliebte und mir schöne Augen machte, und ich war unglaublich erleichtert, dass ich nicht „übrig“ bleiben würde. So ganz sicher war ich mir mit ihm nicht, er war doch sehr anders als ich und wir hatten wenig gemeinsam. Die Gefühle und Hormone machten mich blind und ich vernachlässigte meine eigenen Bedürfnisse sehr. Ich wollte ihm gefallen, ich wollte auf keinen Fall, dass er zornig wird. Also tat ich, was er wollte, ohne auf meine innere Stimme zu hören, die mich anzuschreien schien, ich solle doch BITTE aufhören ihn zu treffen! Irgendwie habe ich es eineinhalb Jahre mit ihm ausgehalten, dann habe ich mich von ihm getrennt.

Kurz darauf kam ein neuer junger Mann, damals war ich 16, er war im Jahrgang über mir, wir sahen uns also recht oft in der Schule. Auch er schaffte es, mich für sich zu gewinnen, und in den ersten 2 oder 3 Jahren fühlte sich das auch sehr gut an. Recht bald schon spürte ich aber, dass mein Bedürfnis nach sexueller Interaktion sehr viel geringer war als seines. Ich setzte die Pille ab, weil zu den Nebenwirkungen auch Libidoverlust gehört, in der Hoffnung, ich hätte wieder mehr Lust auf ihn. Eine kurze Zeit war es auch so, aber ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich die weggelassene Pille war oder ob ich es nur hoffte. Doch dann war es wieder wie vorher. Er war unendlich frustriert, wir verbrachten kaum noch Zeit miteinander. Er bedrängte mich, versuchte, mich zu überreden und anfangs ließ ich mich auch überreden, obwohl sich das nicht richtig anfühlte. Aber auch er war eine temperamentvolle Person und ich wollte ihn auf keinen Fall erzürnen! Wieder war ich also in einer Situation, in der ich nicht auf mich achtete, in der ich mich selbst nicht ernst nahm.

Wir stritten uns viel, ich weinte viel. In einem Streit sagte er zu mir: „Du findest mich doch schon lange nicht mehr anziehend!“, und da kam mir plötzlich der Gedanke: Habe ich jemals irgendjemanden anziehend gefunden? Hatte ich jemals Fantasien darüber, wie es wohl wäre, mit zum Beispiel einem Promi oder sonstwem Sex zu haben? Ich konnte mich nicht erinnern. Die Wahl unserer Worte wurde immer verletzender und er sagte Sachen, die mich nachhaltig „beschädigten“. Zuerst suchte er das Problem noch bei sich, versuchte, herauszufinden, was mit ihm nicht stimmt, doch ziemlich schnell kam er zu dem Schluss, dass er nicht das Problem ist, also musste ich es ja sein. Er sagte mir, ich solle mich mal untersuchen lassen, mit meiner Gynäkologin sprechen, die Hormone überprüfen lassen. Das tat ich alles und das Ergebnis war, dass ich völlig gesund war. Eigentlich ein Grund zur Freude, aber insgeheim hatte ich gehofft, dass meine Lustlosigkeit, wie er es nannte, auf eine Krankheit oder einen Mangel an etwas ausgelöst wurde und man sie mit Medikamenten beheben könnte.

Ich hatte ihm zuliebe Sex mit einer Frau. Sie war eine entfernte Freundin von uns beiden, sie erklärte sich bereit, mit mir zu schlafen, damit ich ausprobieren kann, ob ich nicht doch lesbisch bin. Ich war und bin mir sehr sicher, dass ich nicht lesbisch bin, aber für ihn war das wohl die einzige Erklärung dafür, dass ich mich nicht (mehr) von ihm angezogen fühlte. Wir sprachen sehr lange darüber, er setzte mich sehr unter Druck und ich weinte wieder sehr viel. Und das Ergebnis meines Experiments: Ich bin nicht lesbisch. Der Sex war schon okay, keine Katastrophe, aber eben auch wirklich nicht das, was für mich DIE Lösung meines Problems hätte sein können.

Da stand ich nun. Nicht lesbisch, körperlich gesund. In purer Verzweiflung nahm ich neben meinem Studium drei Nebenjobs an, um mich bloß nicht mit meiner inneren Welt auseinandersetzen zu müssen. Das ging ein knappes Jahr gut, danach konnte ich nicht mehr. Ich brach zusammen, pausierte alles, was ich zu der Zeit an Verpflichtungen und Aktivitäten hatte, ließ mich krankschreiben und wartete auf meinen Platz in einer Tagesklinik, weil eine mittelgradige Depression festgestellt worden war. Zunächst schockiert von dieser Diagnose, aber doch entschlossen, mich aus diesem Loch wieder herauszuziehen, fand ich in der Tagesklinik einen Weg, mich von meinem damaligen Freund zu trennen. Es war eine so große Erleichterung, dass es sich wie Schweben anfühlte. Wieder weinte ich viel, diesmal aber aus anderen Gründen. Mir war nicht bewusst gewesen, was für eine Last auf mir lag, wie sehr mich die Beziehung runterzog und mein Ex mich unter Druck gesetzt hatte.

Nun gab es niemanden mehr, der mich bedrängte, aber das Problem mit der Lust auf Sex war ja noch nicht gelöst. Durch Zufall entdeckte ich irgendwo im Internet (ich hatte am Rande schon einmal davon gelesen, als ich mich auf den Sex mit meiner Bekannten vorbereitete) eine Aufzählung aller Orientierungen und Identitäten, die der LGBT+ Community angehören. In mir keimte eine ganz leise Hoffnung auf, ein ganz zartes Pflänzchen, das sich nach dem kleinen Lichtblick reckte. Asexualität. Ich wusste nicht so recht, was sich dahinter verbirgt, also las ich viel darüber, fragte andere Asexuelle im Internet und horchte in mich hinein. Das fühlte sich irgendwie gut an. Die Beschreibung passte ganz gut. Aber was sollte ich jetzt mit dieser Information anfangen? Hieße das nun, dass ich nie wieder Sex haben würde? Wäre wahrscheinlich nicht schlimm, aber wirklich nie wieder? Manchmal fühlte sich der Sex ja auch ganz gut an. Nicht so gut, dass ich es unbedingt wieder machen möchte, aber es gibt deutlich schlimmere Sachen.

Immer noch nicht ganz sicher, ob Asexualität nun das ist, was mich am besten beschreibt, lief ich mit diesen Gedanken ein paar Wochen herum. Mit dem Gedanken, dass ich vielleicht doch kein Problem habe, konnte ich mich noch nicht so ganz anfreunden. Bis ich dann eines Tages mit dem Auto unterwegs war. Ich hatte eine alte CD wiedergefunden, die ich mir in der Schulzeit zusammengestellt hatte. Über die ersten paar Lieder musste ich schmunzeln, denn sie waren und sind mit schönen Erinnerungen verknüpft. Dann wurde der Stil etwas ruhiger und düsterer und „Hello“ von Evanescence kam aus den Lautsprechern. Ich fuhr gerade auf einer Landstraße vor mich hin und hörte dem Text aufmerksam zu. Irgendwo mittendrin singt Amy Lee „Don’t try to fix me, I’m not broken” (auf Deutsch: Versuch nicht, mich zu reparieren, ich bin nicht kaputt/zerbrochen). Diese Zeile packte mich so sehr, dass ich rechts ranfahren musste, weil ich so unvermittelt anfing zu weinen, nein, zu heulen, dass ich nicht weiterfahren konnte. Ich stieg aus dem Auto und ließ meinen Gefühlen niagarafallartig freien Lauf. Das war eine so unglaublich befreiende und reinigende Erfahrung für mich. Ich bin nicht kaputt. Ich bin gut, so wie ich bin. Ich darf so sein. Ich. Bin. Nicht. Kaputt!

Nun folgt für mich eine spannende Zeit. Ich habe mittlerweile einen neuen Partner, einen, in den ich mich einfach so verliebt habe, ohne dass er mich manipulieren musste. Er trägt mein Päckchen mit mir (die Erfahrungen mit meinen Exfreunden haben leider bleibende Spuren hinterlassen) und endlich fühle ich mich bei jemandem sicher. Ich habe keine Angst mehr. Ich kann für mich einstehen, ich kenne mich jetzt. Endlich bin ich befreit und glücklich.